Die Messe in a, op. 1 für vier Solostimmen und zwei Chöre schrieb Kurt Thomas 1924, im Alter von neunzehn bis zwanzig Jahren. Er studierte damals am Leipziger Konservatorium, gefördert von Karl Straube, dem er die Messe „in höchster Dankbarkeit und Verehrung“ widmete. Straube war zu jener Zeit „der anerkannt erste Organist Deutschlands, ja Europas, Thomas-Kantor, Leiter des Gewandhaus-Chores und heimlicher König und Organisator des Leipziger Konservatoriums“ (so Wilhelm Furtwängler 1927).

 

Hochgebildet und klug, wirkte Straube auf junge Musiker wie ein moderner Sokrates. Seine Weisheit offenbarte sich nicht zuletzt darin, daß er begabten jungen Komponisten ein ergänzendes Studium empfahl und vermittelte: in Darmstadt bei  Arnold Mendelssohn, der an der Erneuerung der Kirchenmusik ganz entscheidenden Anteil hat. So verfuhr Straube auch mit dem jungen Kurt Thomas, der damals als sein „Favorit“ unter den Eleven des Konservatoriums galt. Thomas verdankte diesem Aufenthalt unendlich viel. Mendelssohn beriet ihn bei der endgültigen Fassung der Messe und bei der Arbeit an seinem 137. Psalm op. 4, der Mendelssohn „in Dankbarkeit und Verehrung“ gewidmet ist.

Die Uraufführung der Messe am 27. Februar 1925 durch den Thomanerchor unter der Leitung Karl Straubes hinterließ einen tiefen Eindruck. Ihre Aufführung im Rahmen des Kieler Tonkünstlerfestes im Juni 1925 wurde allgemein als epochales Ereignis gewertet: Erstmals  schienen sich von der geistlichen Vokalmusik her Pfade für die Entwicklung zeitgenössischer Musik aufzutun – mit dem Opus 1 eines kaum Zwanzigjährigen. Am Kyrie mit seinen kaum faßbar im Tonraum schwebenden Ganztonlinien wird dieser Eindruck auch 80 Jahre später noch durchaus nachvollziehbar.

Lange bevor er als Chorleiter internationales Ansehen errang, zählte Kurt Thomas unter den jungen deutschen Komponisten zu denen, auf die sich die größten  Hoffnungen richteten.

Peter Cahn


Kurt Thomas komponierte die Messe in a im Alter von neunzehn Jahren noch als Abiturient und Autodidakt. Karl Straube, der die Bedeutung des Werkes sofort erkannte, beriet Thomas besonders im Hinblick auf die A-cappella–praxis und verhalf der Messe zu einer spektakulären Uraufführung auf dem Tonkünstlerfest 1923 in Kiel, die dem Komponisten eine über ganz Deutschland ausstrahlende Beachtung verschatfte.

Das Werk eröffnete erst eigentlich die Renaissance des A-cappella-Gesanges; die bis dahin künstlerisch wenig ambitionierten Singkreise der Jugendbewegung und die noch ganz in den Traditionen des 19. Jahrhunderts verharrenden Kirchenchöre entwickelten Ehrgeiz und Sinn für Aktualität. Andere Komponisten fanden den Mut, Werke größeren Formates für A-cappella-Chor zu schreiben. Die damals machtvoll einsetzende Erneuerung der evangelischen Kirchenmusik – sie ist in ihren Auswirkungen heute noch spürbar – verdankt der Messe von Thomas den auslösenden Impuls. Hört man das Werk heute, so bemerkt man weniger die Beziehungen zur alten Vokalpolyphonie, die die damalige Musikrezeption zu ermitteln glaubte, als seine stilistische Orientierung an Impressionismus und Frühexpressionismus, an Debussy, Puccini und Schreker – ein Idiom, das man als musikalischen Jugendstil bezeichnen könnte. Neben dieser luxuriösen, durch Akkordmixturen, Ganztonleitern und breit gefächerten Satz charakterisierten Faktur kündigt sich aber bereits ein herberer, archaischer Tonfall an, eine Reinigung und Verengung des Materials, in der sich die Entwicklung der deutschen Chormusik der dreißiger und vierziger Jahre andeutet, so wie sie von Distler, Pepping und nicht zuletzt von Thomas selbst bestimmt wurde. Die Bedeutung dieses Jugendwerkes liegt jedenfalls darin, daß zum ersten Mal eine große A-cappella-Komposition einen Schritt über die Brahmsnachfolge (Arnold Mendelssohn, Heinrich von Herzogenberg) hinaus ins 20. Jahrhundert getan hat, noch mehr aber darin, daß sich in ihr ein starkes und eigentümliches Temperament ausspricht.

Thomas entging nicht den Gefahren eines frühen Erfolges: seine orchestralen und kammermusikalischen Werke standen fortan im Schatten seines Rufes als Vokalkomponist. 1927 erhielt er den Beethovenpreis und wurde bald darauf Lehrer an der Berliner Musikhochschule. Er gründete die Berliner Kantorei und entdeckte hier seine Neigung zur Chorerziehung und zum Dirigieren. Frucht dieser Tatigkeit war das heute noch weitverbreitete dreibändige Lehrbuch der Chorleitung – eine der ersten methodischen Untersuchungen über das Dirigieren, mit praxisnahen Hinweisen zur Probentechnik, zur Programmwahl und zur Vokalkomposition.

Als Dirigent widmete sich Thomas besonders den Werken Bachs. Die damals vieldiskutierte Problematik um die richtige Bachauffassung – historisch „objektiv“ oder „romantisch“, die heute in einer Variante wieder aufgegriffen wird, wurde angesichts der makellosen, präzisen und inspirierten Aufführungen gegenstandslos. Zu einem Höhepunkt in Thomas’ Leben wurde die Leitung des Musischen Gymnasiums in Frankfurt. Diese einzigartige Schule konzentrierte musikalische Talente aus ganz Deutschland in einer pädagogisch höchst effektiven Kombination von Gymnasium, Konservatorium und Internat. Hier überlebte ein nicht unbedeutender Teil der heute tätigen Musikergeneration den Krieg, was hauptsächlich den riskanten Interventionen dieser Persönlichkeit zu verdanken ist, die die Freistellung der gefährdeten Jahrgänge zum Ziel hatten. Auch besaß Thomas Mut und genügend Autorität, um engstirnige, das Musikleben reglementierende Beschränkungen zu ignorieren und eine freie Ausbildung zu sichern.

Wenn Thomas nach 1950 als Komponist resignierte, so deshalb, weil er für seine Person die Veränderung der musikalischen Sprache, die ihm fremd wurde, nicht mitvollziehen wollte. Soll man ihn tadeln dafür, daß ihm die Wendigkeit anderer fehlte und er sich zur Selbstbescheidung entschloß? Nach dem Kriege lehrte Thomas mehrere Jahre an der Detmolder Musikakademie und wurde 1957 zum Thomaskantor in Leipzig berufen. Das mit großen Erwartungen angetretene Amt enttäuschte ihn bald: Politische Rücksichtnahmen und Zwänge aller Art bewogen ihn, in die Bundesrepublik zurückzukehren. Eine langwährende Krankheit verdunkelte seine letzten Lebensjahre, ohne seine Energie und Arbeitslust brechen zu können. Thomas gehört zu jenen Künstlern, deren Werk nicht zur vollen Bedeutung gelangt, wenn man es vom Substrat der Person löst. Insofern ging seine immer noch starke Wirkung in den letzten Jahrzehnten mehr mittelbar durch seine Schüler als unmittelbar von seinem Werk aus. Thomas war kein „Dozent“, das Schriftliche und die Diskussion lagen ihm nicht. Seine meist lakonischen Bemerkungen hatten aber ein eigentümliches Gewicht und eine fortdauernde, stimulierende Kraft. Wer ihm begegnete, stellte fasziniert oder befremdet fest, daß es das Phänomen „Persönlichkeit“ tatsächlich gibt. Dies scheint mir das Bezeichnendste, was über Thomas gesagt werden kann.

Alfred Koerppen